Man kann ja kein Loch in die Stadt reißen

Interview mit Sonja Beeck und Heike Brückner

Sonja Beeck und Heike Brückner sind Stadtplanerinnen und Mitarbeiterinnen des IBA-Büros, sie entwickelten in den letzten Jahren maßgeblich das Stadtentwicklungskonzept für Dessau-Roßlau mit.

Das Konzept für Dessau sieht vor, dass sich die Stadt langfristig in „Inseln“ auflöst, dazwischen soll Landschaft entstehen. Wie kam es zu dieser Überlegung?

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Heike Brückner: Der erste Auslöser waren sehr drastische Zahlen. Prognosen sagten, dass Dessaus Bevölkerung bis auf die Hälfte schrumpfen könnte und dann 6.000 Wohnungen leerstünden. Das wäre ein ganzer Stadtteil wie am Leipziger Tor. Die nächste Frage war, wo man rückbauen soll. Man kann ja nicht einfach an einer Stelle ein großes Loch in die Stadt reißen. Wir brauchten ein intelligentes Konzept als Antwort auf diese eigentlich unvorstellbaren Zahlen.

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Sonja Beeck: Jede Stadt ist anders und muss ihren eigenen Weg finden. Dessau ist im Zuge der Industrialisierung sehr schnell aus einzelnen Gemeinden zusammengewachsen. Die Idee war deshalb, diesen Weg wieder zurückzuverfolgen. Die Stadt hat nicht nur ein Zentrum, sondern mehrere stabile Kerne. Es lag also nahe, wieder kleinere, überschaubare Einheiten zu schaffen. Das ist das Gegenmodell zu einem zentralen, von außen nach innen geschrumpften Stadtkern, und auch mit Blick auf die Zukunft sinnvoll. Die Bevölkerung altert, und ältere Menschen haben kleinere Bewegungsradien. Man braucht kurze Wege und eine gute Infrastruktur mit Geschäften, Dienstleistungen, sozialen und kulturellen Angeboten. Das Inselkonzept mit kleineren Quartieren kann ein nachhaltiges Stadtmodell sein.

Wie sahen die ersten konkreten Schritte aus?

Heike Brückner: Wir haben zuerst geschaut, wo Risse in der Stadt verlaufen, und leerstehende Grundstücke kartiert. Daraus ergab sich die Idee des neuen Landschaftszuges. Das war ein wichtiger Schritt, weil die Kommunalpolitik Abrisse bis dahin eher als Bedrohung empfunden hatte und nun erstmals zu einem positiven Bild fand. Ursprünglich sollten die städtischen Wohnungsunternehmen einen Konsens darüber finden, wo abgerissen werden soll. Doch der Plan war bald Makulatur, weil die konkurrierenden Eigentümer versuchten, ihre Bestände zu retten. Manche versprachen den Abriss, aber sanierten stattdessen ihre Gebäude, um Mieter abzuwerben. Aus diesem Scheitern reifte die Erkenntnis, dass es neben den Eigentümern auch noch viele andere gesellschaftliche Akteure in einem solchen Prozess gibt.

Sonja Beeck: Aus der Planerperspektive war es zunächst eine bittere Erfahrung, dass die ökonomischen Interessen der Eigentümer die größere Durchsetzungskraft hatten als jede städtebauliche Überlegung. Aber der dann eingeschlagene Weg war einfach klüger – auch, wenn es länger dauert.

Heike Brückner: Wäre damals der Konsens mit den Wohnungsunternehmen geglückt, wäre vielleicht gar nicht so viel Innovation entstanden. Allein mit den klassischen, marktorientierten Akteuren funktioniert das nicht. Sie müssen sich auch unternehmerisch selbst befragen – und das tun sie nicht freiwillig. Wir haben der Stadt dann eine Planungswerkstatt mit unterschiedlichsten Akteuren vorgeschlagen.

Sonja Beeck: Hier war die Stadtverwaltung sehr kooperativ dabei, über neue Methoden nachzudenken und viele Menschen einzubeziehen. Wichtig waren die Ergebnisse dieser Werkstatt – weg von einem Abriss-Masterplan zu einer kleinteiligeren, auf Verabredungen basierenden Strategie.

Erzeugen solche Prozesse mit offenem Ausgang nicht auch große Verunsicherung?

Heike Brückner: Die Ideen der Planungswerkstatt wurden im Schneeballprinzip verbreitet: Die beteiligten Vereine, Initiativen und Bürgerbewegungen trugen die Debatten wiederum in ihre Netzwerke hinein. Wir haben die Verunsicherung, die Ängste und Sorgen aufgenommen. Wichtig war die Offenheit, zu sagen: „Wir wissen auch noch nicht genau, wo es hingeht – deshalb müssen wir miteinander reden.“ Uns hat auch die Kritik der Bürger sehr geholfen.

Was war das wichtigste Thema dieser Kritik?

Heike Brückner: Hauptsächlich war es die Angst, dass der Stadtteil aufgegeben wird und auf dem Abstellgleis landet. Aber hier hat die Stadtverwaltung die Bürger durch viel Kommunikation mitgenommen. Ein weiteres Diskussionsthema war die Frage, wie die neuen Landschaftsflächen aussehen: Eine gepflegte Parklandschaft ist eben etwas anderes als eine sich natürlich entwickelnde Wiese. Besonders die ältere Generation kritisierte diese Ästhetik.

Sonja Beeck: Es ist auch ein Paradigmenwechsel: Solche langfristigen, flexiblen Veränderungen müssen erst einmal ausgehalten werden. Das ist etwas anderes als die Verfahrensweise der letzten hundert Jahre, als der Staat baute, immer einen Plan und die Verantwortung hatte – Wachstum nach Schema. Jetzt müssen sowohl Planer als auch Bürger wieder lernen, dass eine Stadt nicht nach einem Bild produziert wird, sondern permanent entsteht. Dennoch darf man sie nicht dem Wildwuchs überlassen. Man braucht eine Idee und muss in der Bevölkerung um Akzeptanz für die Zwischenzustände werben.

Aber der Grünzug ist nur ein Teil des Konzepts. Was passiert mit der Stadt?

Sonja Beeck: Es gibt viele ökonomische und soziale Probleme. Aber es gibt auch Anzeichen dafür, dass man mit der Belebung des öffentlichen Raumes wie z.B. des Stadtparks, wo nicht alles auf Konsum ausgerichtet ist, mehr erreichen kann, als über städtebauliche Projekte. Vielleicht kann man langsam anfangen: mit Bespielungen einer Straße, mit temporären Zwischennutzungen …

Also eher weiche Methoden, als harte, gebaute Fakten?

Heike Brückner: Wir sehen an Netzwerken wie der Stadtteil-AG Am Leipziger Tor, dass es sinnvoll ist, mit gemeinsamen Aktivitäten Stadtteilidentität zu fördern. Aber das ist eben nicht Städtebau und wird deshalb in seiner Bedeutung als Stabilisierungsfaktor noch zu wenig unterstützt.

Info: Dessau-Roßlau