Schrumpfungsdebatte

Diskurskontext des Stadtumbaus

Wo Städte schrumpfen, ist das Ende der Wachstumsepoche erreicht. Dass schrumpfende Städte gleichermaßen Bevölkerung und wirtschaftliche Aktivität verlieren, scheint auf der Hand zu liegen, doch die Ursachen für das Phänomen der Schrumpfung und seine Ausprägungen sind vielgestaltig.

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Das Phänomen der schrumpfenden Städte ist nicht neu. Immer wieder folgten im Laufe der Geschichte auf Phasen des Wachstums Zeiten des Bevölkerungsschwunds. Kriege, Katastrophen und Epidemien dezimierten die Einwohnerzahlen von Städten und ganzen Landstrichen, technologische, ökonomische oder politische Veränderungen nahmen selbst einstigen Hauptstädten ihre Bedeutung.

Seit Beginn der Industrialisierung vor etwa zweihundert Jahren und der Herausbildung der modernen Großstadt jedoch galt Wachstum als universalisierbares Muster der Stadtentwicklung. Bevölkerung und Wirtschaftskraft stiegen in den Industrieländern nahezu kontinuierlich und meist in hohem Tempo – mit ihnen nahm der Wohlstand zu und die Städte dehnten sich aus. Der Anteil der weltweit in Städten lebenden Bevölkerung wuchs von drei Prozent im Jahr 1800 auf 14 Prozent im Jahr 1900. Im Jahr 2000 waren es bereits 47 Prozent; beinahe die Hälfte der Weltbevölkerung lebte nunmehr in immer größer werdenden Städten. Bis heute prägt dieses Wachstumsparadigma unser Denken über Stadtentwicklung: Wachstum ist zu einer Selbstverständlichkeit geworden. Doch Entwicklungen der letzten Jahre zeigen, dass diese historische Epoche auf ihr Ende zugeht. Die Einwohnerzahl in den Industriestaaten beginnt bereits kleiner zu werden, der Urbanisierungsprozess ist rückläufig, und die Wirtschaft (gemessen am Bruttoinlandsprodukt) wächst zwar noch geringfügig, doch die Beschäftigungsraten nehmen schon seit einiger Zeit stetig ab.

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Die städtische Schrumpfung des 20. Jahrhunderts unterscheidet sich deutlich von ihren historischen Vorläufern. Sie ist nicht mehr die Folge schicksalhafter Katastrophen, sondern wird zunehmend zum Normalfall der Stadtentwicklung. Bereits vor rund sechzig Jahren begannen Großstädte der westlichen Welt partiell zu schrumpfen. Doch was zunächst als singuläre, lokal begrenzte Fehlentwicklung aufgefasst wurde, ist in vielen Regionen der Welt mittlerweile zum Regelfall geworden.

Bis heute versucht man dennoch, der neuen Herausforderung aus dem Weg zu gehen. Ein ganzes Arsenal von Beschönigungsvokabeln kursiert, das den Kern des Problems verschleiert. Der Begriff „schrumpfende Städte“ war lange Zeit verpönt und beginnt sich nur langsam auch in der öffentlichen Debatte durchzusetzen. Dabei muss sich Schrumpfung ebenso wenig ausschließlich negativ darstellen, wie Wachstum stets als positiver Prozess erfahren wurde. Auch und gerade in der Schrumpfung liegen Potentiale – wie überall, wo sich Leitbilder grundsätzlich ändern, Handlungsmodelle und Praktiken sich neu formieren. Das Ergebnis ist eine umfassende gesellschaftliche Neu- und Umorientierung. Der entscheidende Schritt auf dem Weg dazu ist die offene Auseinandersetzung mit dem Phänomen, eine Konfrontation, der sich das Land Sachsen-Anhalt im Jahr 2002 mit der IBA Stadtumbau 2010 mutig gestellt hat.